Die Mutter muss man lieben
Die Mutter muss man lieben...
(Die Schlangenklage)
„Hört zu,
was ich Euch jetzt noch sage,
ich klag nicht gern,
aber ich klage
über die gegenwärtige Plage,
damit ich die Lage
noch einigermaßen ertrage.
Damit kann ich meine Schmerzen lindern“,
sprach die große Schlange zu den Katzenkindern.
„Die Menschenkinder unterscheiden sich
entscheidend von den kleinen
Katzen- und Schlangenkindern.
Anstatt mich, wie Ihr, zu ehren,
schiessen sie seit Jahrtausenden mit Gewehren
auf alle, die nach meinem Wissen begehren.
Mich zerteilen sie gefühllos in kleinste Teilchen,
die sie Korpuskel und Wellen nennen,
sie zerren mich in Schellen
bis nach Zern, wo sie mich
durch lange Tunnel schießen.
Sie sehen nicht,
wie meine Tränen fließen.
Warum fühlen sie nicht mit mir?
Warum missachten sie mein Leid?
Welche Kälte, ich vergehe schier!
Mein Blut haben sie geleckt,
und das hat ihnen
viel zu gut geschmeckt.
Zwar haben sie entdeckt,
dass ich – obwohl versteckt -
überall anwesend bin.
Der Sinn der Entdeckung
ist ihnen aber scheinbar
verborgen geblieben,
weil sie sich mit ihren Objektiven
selbst nicht mehr spüren
und ihre Sinne
sinnlos geworden sind.
Mutter muss man aber lieben.
Erst da
kann man sich selbst erspüren.
Erst da sieht man ein den Sinn,
dass ich immer auch Welle bin -
kurze und lange,
Euer aller
fassbare und unfassbare
Mutterschlange,
die immer schwingt,
damit das Leben gelingt.
Ich bin die Atemwelle
die alle durchdringt,
das Wiegenlied,
das in allen klingt,
die Wirbelsäule,
die die Menschen aufrecht hält,
das Licht,
das ihren Blick erhellt.
„Schenkt mir, oh Menschenkinder,
nur einen Blick!
Lenkt nicht!
Empfängt Euer Geschick!
Sagt ganz „Ja“,
genießt das Glück!
Träumt,
liebe Schlangen- und Katzenkinder,
schwingt und singt, dass es in den Ohren
der Menschenkinder erklingt
und der Traum vom erwachten Lebensbaum gelingt,
wo sich die Menschen an ihre Herkunft erinnern.
Nur so kann das Leben über den Tod gewinnen.
Sie sollten wieder ihre Sagen hören
und die Alten der Tage ohne Unterlass befragen.
Die Alten im fernen Osten
wussten mal mich als die Urmutter zu schätzen
und verehrten mich im Taiji-Zeichen
an allen ihren Heiligen Plätzen.
Die Westen-Kinder sollten sich mit
den Greisen des alten Ostens
zu heiligen Kreisen zusammenschließen,
kostbares Öl in ihre Lämpchen gießen,
ihre Herzen erweichen,
einander die Hände reichen
und mit ihren Sinnen
alles verinnerlichen.
Dann begreifen sie,
dass die Wirklichkeit,
die sie greifen,
das Unbegreifliche braucht,
und dass sie die Ganzheit kaum streifen,
wenn ihnen nur eine Hälfte taugt.
Sie werden dann sehen,
dass Weitsicht die Einsicht,
der Osten den Westen
und der Westen den Osten braucht,
und dass der Geist den Körper vergeistigt,
wenn er ihn durchhaucht.
Das schließt auch meine Wunden
und der sinnlose Kampf
ist endlich überwunden.
Dann bin wieder ganz
und beiße mich in den Schwanz,
bin Uroboros -
die Schlange
ohne Anfang und ohne Ende -
und feiere die Wende
mit dem heiligen Schlangentanz.