Was hat die Me-too-Debatte mit Quantenphysik zu tun?

Das totale Wissen über die Materie und der totale Krieg

Es ging schließlich um das Habhaft-Werden des kleinsten Partikelchens unserer greifbaren, materiellen Welt. Das zu bestimmen stand noch aus. Ist das erfasst, hat man die Materie fest im Griff! Dann gibt es kein Geheimnis mehr, dann hat man das All-Wissen und die totale Macht! 

Kennen wir nicht diesen Ausdruck von irgendwo her? Würde es sich um zwei vollkommen verschiedene Dinge handeln? In dem einen Fall - um die neutrale objektive Wissenschaft, in dem anderen - um einen moralisch verwerflichen Krieg. Wir werden sehen. 

Der letzte Schritt der totalen Erfassung der Welt schlug fehl

Die totale Erfassung der Welt, mit der unsere westliche Kultur seit dem Beginn der Renaissance intensiv betrieben wurde, sollte eben mit der Erfassung des kleinsten Materieteilchens prinzipiell abgeschlossen werden! Keiner vermutete, dass sich das Partikelchen im entscheidenden Augenblick der Erfassung entzieht, indem es sich in eine Welle verwandelt! 

Dass die fassbare Materie nicht zu fassen war, weil sie plötzlich ihre Substanz aufgab und die völlig andere Erscheinungsform einer Welle annahm, entzog sich jeder Vernunft. Seitdem ist die wissenschaftlich technische Welt diesen kleinen Materieteilchen, die sich unfassbar machen können, auf der Spur. Mit noch potenteren Linsen und Objektiven und einer noch präziseren Technik wird man wohl diesen Grenzgängern doch wohl auf die Schliche kommen können! 

Der fokussierte Blick sieht nichts als das Ziel

Kaum zu glauben, aber die Wissenschaft hat bis heute noch keinen Schritt in das Grenzland getan, nie dem „anderen Land“ einen Blick gewidmet. Es geht auch nicht. Einem zielorientierten Blick ist Widmung nicht möglich. Widmung hat mit Schenkung, Hingabe zu tun – ein zielorientierter Blick mit Bemächtigung. Der wissenschaftliche, zielfixierte Blick ist mit einem Fernrohr vergleichbar. Ein Tunnel zwischen den beutegierigen Augen und dem fernen Ziel in der Mikro- oder Makrowelt. Ein Tunnelblick. Und dazwischen dicke Tunnelwände, die durch die potenten Linsen um ein Vielfaches verlängert werden. Es geht ja schließlich um die Verfolgung der Grenzgänger! Um die objektive Feststellung ihrer Identität, und natürlich auch um die genaue Beobachtung ihrer Fluchtversuche. Und auch um die Erhebung weiterer Daten über ihren Verbleib - auch im fremden Land. Grenzgänger sind grundsätzlich verdächtig, als Spione aber oft höchst nützlich. 

Seitdem stehen die Grenzgänger unter fortwährender Beobachtung. Und sie haben auch jede Menge Informationen mitgebracht, die wir alle benutzen und bis zur letzten Information ausschlachten. 

Der rücksichtslose Umgang der objektiven Wissenschaft mit den kleinsten Teilchen

Dafür hätten sie gewürdigt gehört. Aber mit Spionen ist man nie zimperlich umgegangen. So werden auch diese kleinsten Teilchen verfolgt, fixiert, vergewaltigt - durch lange Tunnel in der Schweiz und anderswo geschossen, zerschossen, separiert, isoliert, unter Beobachtung gestellt oder auch als Wellen benutzt, ohne dass jemand ihnen nur einmal die Chance gibt, sich selbst zu äußern, einfach aus sich herauszutreten und ihr wahres Wesen zu zeigen. Alle werden nur verhört – und müssen in den Verhören auf genau gestellte Untersuchungsfragen antworten. Nach Zahl, Maß, Gewicht werden sie genauso objektiv wie Schönheitsköniginnen verglichen und klassifiziert, dazu kommt die (Über)Lebensdauer. Manche überleben nur Millisekunden – gerade so lange, dass es für ihre Erfassung reicht! 

Was tun wir hier?

Was tun wir hier? Wir schlachten Wirklichkeit und schlachten 100 Jahre alte Entdeckungen aus, fühlen uns fortschrittlich und kommen nicht weiter. Wir jagen wie vor 100 Jahren, vermessen und halten fest, holen sinnlos und objektiv noch detailliertere Informationen ein und dehnen die Grenzen unseres Makro- wie Mikrokosmos aus und: bleiben dabei systemimmanent, fest in unserer festen Welt gefangen. Wie viele Lichtjahre entfernt unsere Fernrohre auch schauen und wie viele neue Elemente wir aus dem Zauberhut auch ziehen und für eine Millisekunde festhalten, wir entdecken nichts Neues. Weil uns der Blick dafür fehlt. 

Der wissenschaftliche Zugang zur Welt und die „Me-too-Debatte 

Unser Blick ist der Blick eines Jägers, dessen ausgeworfenem Netz keiner entkommt. Es ist ein Blick, der sich nicht aus dem Sein, sondern aus dem „Haben“ und „Habhaft werden“ versteht. Mit dem Maß legt er Fesseln an, verfügt und gebraucht. „Und bist Du nicht willig, so brauch ich Gewalt!“ Die „me too-Debatte“ betrifft nicht nur Frauen an ihren Arbeitsstellen.

Sie müsste bei den Korpuskelchen – den kleinsten Kindern der Mater-ie beginnen. Und die sind noch viel wehrloser! Nicht nur weil sie klein sind und nicht unsere Sprache sprechen, sondern weil der Frauen-Missbrauch, der nun aus der Dunkelheit der Arbeitsräume ans Licht der größeren Öffentlichkeit gezogen wurde, ein offenkundiger Missbrauch ist, der auch moralisch verurteilt werden kann und wird. Anders verhält es sich mit den kleinen Materieteilchen, die wissenschaftlich – und unter Wahrung aller objektiven Kriterien untersucht werden. Das ist doch unsere heiligste Aufgabe! Sofern etwas heute heilig ist, ist es die Objektivität, deren Wächter und Verfechter die heilige Wissenschaft ist. Was in ihrem Namen geschieht, ist gut, weil objektiv! Sieht jemand vielleicht etwas „Unrechtes“ darin, dass die kleinsten Partikelchen der toten Materie wissenschaftlich untersucht werden? 

Die Lebendigkeit der Materie

Unglaublich, wie lange sich auch der Mythos der toten Materie hält! Als würde sie nicht seit je zeigen, wie fruchtbar sie ist, als würden wir nicht mit unserem Dasein dafür zeugen! Sprechen nicht alle Völker von „Mutter Erde“, der Mater, die uns alle ernährt? Wie könnte sie uns ernähren, wenn sie tot wäre? Oder ist es nur so, dass sie keine Gefühle, kein Empfinden hat? 

Haben wir uns je in Frage gestellt, was wir unser aller Mutter und ihren Kindern antun? Haben wir sie je gefragt, wie es ihr geht?

Haben wir uns nur einmal gefragt, wie es ihr bei unseren wissenschaftlichen Untersuchungen geht? Ihr und allen ihren Kindern?

Der blinde Glaube an die Wissenschaft und die Unfähigkeit zu Mitgefühl 

Wir kümmern uns nicht darum, wir sehen sie nicht, wir widmen ihnen unsere Aufmerksamkeit nicht. Wir gucken nur in die Objektive und hören die objektiven Berichte. Durch sie erfahren wir die Wahrheit! Erst wenn die Wissenschaft Beweise liefert, dass Fische eine hoch entwickelte Wahrnehmung haben und differenziert miteinander kommunizieren, glauben wir es. Das ändert aber dennoch nichts an unserem Verhalten. Wir sezieren sie weiter – eben: zu wissenschaftlichen Zwecken – und begegnen ihnen genauso, wie den kleinsten Materieteilchen. Und uns selbst. Objektiv und vom Abstand her. Und bleiben unberührt. 

Zuzana Sebková-Thaller